Ein Kastensystem in Europa

Wir kennen die Bilder auswendig. Eine Katastrophe später unterschreiben wir weitere Petitionen, lockern den ein oder anderen Euro, versammeln uns auf den Straßen, laut, mit Schildern bewaffnet und schreien unsere Kehlen wund, dass wir Platz haben. Menschen ertrinken, sind Opfer von illegalen Pushbacks, Helfer werden zu Tätern und manche geben, in ihren warmen Nestern hockend, ihre unfundierte Meinung dazu ab. Ich habe aufgehört mit ihnen zu diskutieren, zu müßig ist es mir geworden denen die Welt zu erklären, die an ein anderes Menschenbild glauben. Diejenigen, die es an die europäischen Außengrenzen geschafft haben, sind in Freiluftgefängnissen festgesetzt, jahrelang perspektivlos ohne vor oder zurück. Orte brennen ab, neue werden gebaut, da ansonsten gestorben wird. Menschliche Körper und Psychen erkranken zu abertausenden, gekränkt von der heuchlerischen Idee des freien Europas. Die Tinte in den Verträgen zur Wahrung der Menschenrechte verblassen scheinheilig auf den Papieren der Chartas. Ich verstehe die Komplexität des Asylrechtes in der Theorie, in meiner ethischen, ideologischen Vorstellung vom Leben findet dieser Konsens jedoch niemals Raum. Für mich soll Mensch leben, wo und wie es gefällt. Im Gegenzug fordere ich bloß, dass diese Idee ebenso gelebt wird.  

Die Grenzen sind dicht. Ich informiere mich fast täglich, wie viele Geflüchtete es in die Bundesrepublik geschafft haben. Vorgestern waren es in NRW 29 Neuankömmlinge, an den Tagen zuvor jeweils bloß eine Person. Nach der Registrierung setzt sich die Kategorisierung von Menschen fort. Wie und wo es weiter geht, ist zunächst ein Glücksrad: Ost oder West, in der Stadt oder auf dem Land, Vorzeige Integrationsprojekt oder Containerbau mit Gemeinschaftsräumen. Wie lange dieser Zustand aufrechterhalten wird ist jedoch keine Willkür mehr, sondern politisches Kalkül. Nach ewig andauernden, zermürbenden Asylverfahren wird entschieden, ob die Berechtigung nach einem freien, besseren Leben zu streben, vorliegt, oder eben auch nicht. Ein politisches Schachbrett mit Feldern aus sicheren oder unsicheren Herkunftsstaaten und Aufenthaltstiteln als Spielfiguren. Und die, die sich nach europäischem Asylrecht mal nicht so anstellen sollen, werden eben nur geduldet. Ertragen, ausgehalten, erstmal hingenommen. Auf Ausweißen attestierte Abneigung.

Da die Einreise nach Deutschland zurzeit so gut wie unmöglich ist, hat es die Bundesregierung seit einiger Zeit auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe abgesehen: Personen aus den Balkanländern, viele aus der Romacommunity. Eine Endlosschleife der Stigmatisierung, die oftmals in generationsübergreifenden Tragödien mündet. Damals wie heute, verfolgt und verstoßen, hier und dort. In den Balkanländern werden viele Rom*nja seit Jahrzehnten struktureller und institutioneller Diskriminierung und Rassismus ausgesetzt. Pässe und Staatsangehörigkeiten werden häufig nicht ausgestellt, Dokumente sind schwer zu erwerben. Die auf dem Papier zugeordnete "Staatenlosigkeit" verordnet ihnen sich vom gesellschaftlichen Leben fernzuhalten. Keine klare Staatsangehörigkeit-keine Meldeadresse, keine Meldeadresse-keine Berechtigung auf das Anmieten von Wohnraum. Viele werden an die Stadtränder verdrängt und leben abgeschottet in einsturzgefährdeten Siedlungen aus Sozialismuszeiten oder Zeltsiedlungen ohne Zugang zu Wasser und Heizung. Schulbesuche und Arbeitsgenehmigungen bleiben verwehrt. Ein Kastensystem mitten in Europa. Verständlich, dass viele aus diesem Kreis ausbrechen wollen und zumindest für die nachfolgenden Generationen auf ein selbstbestimmteres Leben in den Staaten von Westeuropa, den Würdeträgern der Chancengleichheit, hoffen. Die schmerzliche Realität wird den geflüchteten Rom*nja auf dem Silbertablett serviert: Sie bleiben geduldet, oftmals ein Leben lang. Chancengleichheit adé. Dieser Aufenthaltstitel, berechtigt sie bloß, erstmal nur hierzubleiben und nicht sofort wieder gehen zu müssen: Duldung- Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung. Vorrübergehend ist ein unangenehm dehnbarer Begriff, wenn man endlich ein neues Leben beginnen möchte. Ein Ansporn zur Integration fühlt sich anders an. Mittlerweile dürfen geduldete Kinder die Schule besuchen, Kindern entfachen nun mal bei den meisten Menschen irgendeine Art von Betroffenheit. Menschen über 16 Jahren haben so gut wie keine Chance sich in das System einzufinden. Eine Duldung berechtigt nicht an der Teilnahme von Integrations- oder Deutschkursen, die sind eher längerfristig angelegt und nichts Vorübergehendes. Die wenigen Angebote die es gibt, werden durch Stiftungen oder durch andere Bildungstöpfe finanziert. Häufig reicht ein Deutschkurs erstmal nicht aus. Die in ihren Herkunftsländern stattgefundene Marginalisierung, verhindert einen Zugang zu Bildung, sodass viele nicht lesen und schreiben können. Einen Alphabetisierungskurs für Personen mit Duldungsstatus zu finden, ist ein sehr, sehr dickes Brett zu bohren. So wird Integration und gesellschaftliche Teilhabe wieder auf dem Rücken ehrenamtlicher Zivilpersonen und engagierter, vernetzter, bedarfsorientierter Sozialarbeit ausgetragen. Diejenigen, die sich an eine Arbeitsstelle wagen und bereit sind sich auf unterbezahlte Tätigkeiten einzulassen, müssen den langsamen Mühlen der Bürokratie standhalten. Wer eine Arbeitsstelle gefunden und zugesagt bekommt, muss sich zunächst, explizit für die Tätigkeit eine Arbeitsgenehmigung bei der Ausländerbehörde einholen: Institutioneller Rassismus par excellence. Das dauert gerne ein paar Monate und solange halten Arbeitgeber*innen, trotz ehrenhafter Absichten, in den seltensten Fällen eine Stelle frei. Es soll einfach nicht sein. Kein Zugang zu Bildung, kein Zugang zum Arbeitsmarkt und die Abstände zur Verlängerung der Duldung werden immer kürzer. Statt alle drei Monate müssen sie jeden Monat zur Ausländerbehörde rennen, um ihre Duldung zu verlängern. Zeichnet sich dieses Muster ab, lauert die Abschiebung schon hinter den Drehkreuzen der Ausländerbehörde. Abschiebungen werden nicht gerne gesehen, zumindest von den meisten Menschen. Die Geschichten von Familien die nachts aus dem Schlaf gerissen werden, in wenigen Minuten ihre Koffer packen müssen und von einem Polizeikonvoi zum Flughafen deportiert werden, lösen selbst in den Weltfremdesten, privilegiertesten Toleranzverweigerern, die sonst nur Menschen die aus zerbombten Kriegsgebieten kommen ein Bleiberecht einräumen, einen Funken Empathie aus. Zumindest wenn Kinder betroffen sind. Deswegen hat sich die europäische Union etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Die freiwillige Rückkehr. Gut für die Statistik und den ruhigen Schlaf. Geduldete werden förmlich zur Ausländerbehörde gebeten, um ihre Dokumente zu verlängern, aber die zugewiesenen Büroräume im Briefkopf haben sich verändert. Es wird zum Rückkehrmanagement geladen. In den hintersten Kammern der Ausländerbehörde werden Schutzsuchende genötigt, per Unterschrift ihrer Ausreise aus der Bundesrepublik zuzustimmen. Ganz freiwillig. Mit Zetteln in der Hand stranden sie dann bei Sozialarbeiter*innen in Unterkünften oder Integrationsberatungen. Viele wissen nicht was sie da unterschrieben haben, obwohl eine vom Staat gestellte Dolmetscher*in anwesend ist. Eigens organisierte Übersetzer*innen oder gar Anwält*innen werden nicht ganz so gerne gesehen. Und da die Intention der Einladung für nicht deutschsprachige intransparent ist, kann Unterstützung vorab nicht organisiert werden. Eine Fallgrube, die mit Ängsten und Hilflosigkeit kalkuliert. Menschen berichten von ausgeübtem Druck und Drohungen. Falls sie die Unterschrift verweigern, die Polizei sie nachts hole, um sie unter Zwang abzuschieben. Ein weiteres Trauma, was sie ihren Kindern gerne ersparen würden. Die Menschen sind zu müde um Wiederstand zu leisten. Ist die Unterschrift erst einmal passiert, gibt es kaum einen Weg zurück. Ein paar Gründe gibt es jedoch, die eine Aussetzung erlauben: Eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle, die schnell gefunden werden muss- Niete. Gute Integrationsbemühungen, die sich durch den Erwerb der deutschen Sprache nachweisen lassen- Niete oder gesundheitliche Gründe, die eine Überführung verhindern. Ein Hoffnungsschimmer, der durch weiteren strukturellen Rassismus getrübt wird. Atteste werden selten erstellt. Was für manche bloß das in die Hand nehmen eines Kugelschreibers abverlangt, entscheidet über das weitere Leben von anderen. Es geht um Macht, um Intoleranz und Stigmatisierung, um das „das geht doch nicht“, es geht um Rassismus im Gesundheitswesen. Wenn Atteste ausgestellt werden, sind diese halbherzig, nicht aussagekräftig genug. Hochschwangere Frauen, traumatisierte Kinder, die endlich angefangen haben ein normales Leben zu führen, in deutschen Kitas und Schulen angenommen und gefördert, Großeltern, die ihre Familien zurücklassen und alleine freiwillig zurückkehren. Wer wann dran ist, ist ein russisches Roulette. Nicht nachvollziehbare Gründe, warum, wann zur Ausreise gebeten wird. Vielleicht weil die Mitarbeiter es endlich geschafft haben, ihre Ablagen aufzuräumen, Akten von Staub zu befreien oder die Befriedigung einen Punkt auf der To-Do-Liste zu streichen so groß ist, dass die Entscheidung über Existenzen nicht im Verhältnis dazu steht. Manche bleiben, andere dürfen es nicht. Zermürbte Nervenstränge, gefoltert durch ständige Ungewissheit. Die, die erstmal verschont geblieben sind, weil ihre Akte zu weit unten liegt, unterliegen den sogenannten Kettenduldungen. Verlängerte Ausweispapiere sammeln sich wie Lebenskreise in Stammbäumen. Duldungen werden vererbt, viele Familien mit Roma Hintergrund leben in zweiter, dritter Generation geboren und aufgewachsen in Deutschland, fristen jahrzehntelang ein Leben in Geflüchtetenunterkünften, weil sie das System seit Jahrzehnten diskriminiert, stigmatisiert und marginalisiert. Sie sollen sich integrieren heißt es dann wieder von Migrationsdogmat*innen, aber es braucht mehr als nur einen starken Willen und eine ausgeprägte Motivation, sich eine wirtschaftlich unabhängige Existenz zu erarbeiten. Während die meisten meiner Generation einen lebenslangen Kampf führen, das erwachsene Dasein mit dem inneren Kind in Einklang zu bringen und ein bisschen Yoga hier und ein paar lebensverändernde Reisen da unternehmen, wird von den Rom*nja verlangt, mal ebenso ein generationsübergreifendes Trauma zu überwinden, sich gefälligst zu integrieren und sich endlich mal eine kollektive Resilienz anzueignen. Traumata, an denen unsere Urgroßeltern eine Mitschuld tragen. 

Wir können den Genozid an Rom*nja, bei dem über eine halbe Millionen Menschen ihr Leben verloren, nie wieder rückgängig machen, aber wir stehen in lebenslanger Pflicht, dass diese Narben endlich anfangen können zu heilen. Die Anerkennung des Verbrechens an Rom*nja und Sinti*zze ist eine Farce. Erst im Jahre 1982 wurde der Völkermord an Rom*nja und Sinti*zze von der Bundesregierung anerkannt, 1992 wurde angeregt den im Holocaust hingerichteten endlich ein Mahnmal zu widmen. 20 Jahre hat die Diskussion über die Notwendigkeit eines solchen gedauert. Streitpunkt auch hier, der textuelle Verzicht des Z-Wortes. 20 Jahre Kampf um einen Brunnen und ein paar Tafeln, die allerniedrigste und basalste Form der Anerkennung und des Ermahnens. Und jetzt muss vielleicht doch eine U-Bahn Linie gebaut werden, das Denkmal ist im Weg. Ein Sinnbild für die Emotion, die geflüchtete Rom*nja immer wieder zu spüren bekommen: Irgendwie im Weg sein. Irgendwie da, aber die eigenen Bedürfnisse nie richtig anerkannt.        Ich habe nichts über Rom*nja in der Schule gelernt, ich weiß wenig über ihren Leidensweg, kenne keine Lieder oder große Künstler*innen, dafür aber die SpiegelTV Reportagen über Kriminalität, Müllberge und Bettelmafias. Ich bin das Kind eines Gastarbeiters vom Balkan und habe Klischees und Stereotypen ganz natürlich in die Wiege gelegt bekommen. Wer Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien hat, weiß, dass es zeitweise schwer nachvollziehbar war, wer, wem und warum nicht traute. Aber die Abneigung gegen Rom*nja war zumindest schonmal ein gemeinsamer Nenner. In Kontakt mit den Lebensrealitäten der Rom*nja bin ich das erste Mal im Studium gekommen und geballt in meinem beruflichen Kontext. Ich komme äußerlich nach meiner deutschen Mutter und führe das Leben einer blonden, blauäugigen Frau. Ich bin Teil deutscher Geschichte. Ich fühle mich betroffen von dem was passiert ist und verantwortlich für das was kommen wird. Ich erkenne auch die Vorurteile der Sozialarbeiter in meinem Umfeld und die Restriktionen der Behörden gegenüber Rom*nja Familien. Töne werden schärfer, die Fronten verhärteter. Wir steuern einem düsteren Abgrund entgegen. Gedankenstrukturen verfestigen sich zunehmend und die Katze spielt weiter solange mit ihrem Schwanz, bis sie ihn sich irgendwann abbeißt. Wird unsere Gesellschaft das Gleichgewicht verlieren? Ich will raus aus diesem Kreis. Was hilft? Tentakeln ausfahren, Zusammenhänge verstehen und vernetzen, Vorurteile hinterfragen und zu guter Letzt Bildung, Gespräche, Bildung und Gespräche. Das Leid was die Rom*nja seit Jahrhunderten schultern, muss entschädigt werden! Bleiberecht und uneingeschränkter Zugang zu Bildung, Wohnraum, Gesundheit, zu Integration aller Art, erscheint mir als die geringste Form der Anerkennung für die Leben die wir genommen haben. Und die Realität in Deutschland? Bornierte Humanitätsletharg*innen, die noch nicht einmal bereit sind, ihren Sprachgebrauch zu ändern.  

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